Wilde Wasser

Oh je, was habe ich mir nur dabei gedacht! Die Felsklippe ist gut vier Meter hoch und unten schäumt das Wasser hinein in ein grünliches Höllenloch. Ich stehe mitten im Wasser des Flüsschens, das die Schlucht und die vor mir liegende Kaskade geschaffen hat. Vier Meter hören sich nicht viel an, wenn man zu Hause im bequemen Schreibtischstuhl sitzt und mal eben auf den Buchen-Button klickt. Jetzt muss ich es ausbaden. Im wahren Wortsinn. Ich zucke zurück. Man, ist das hoch! Doch da werde ich geschubst und ich falle hinab!
Ich tauche tief in die schäumende Flut, strample wieder hoch, breche prustend und nach Luft schnappend durch die Wasseroberfläche. Wer hat mich da angestoßen? Mit dem werde ich noch ein Wörtchen reden! War es mein Mann? Oder Felix, unser Tourleiter? Meinen Mann traue ich es eigentlich nicht zu. Deswegen habe ich ihm diese Tour durch die Schlucht eines Wildbachs ja auch zum letzten Weihnachtsfest geschenkt. Er sollte mal beweisen, dass mehr Mut in ihm steckt, als das winzige Quäntchen, das er sich nur zutraut. Nein, er würde mich nicht schubsen.
Jetzt muss ich mich gewaltig anstrengen, um gegen den Strom zum flacheren Wasser zu schwimmen. Ich will unbedingt sehen, wie mein Wolle herunter kommt. Er hasst diesen Spitznamen. Doch er passt wirklich perfekt zu meinem Mann. So weich, wie er immer daherkommt, wie ein fluffiges Wollknäul. Aber was ist das? Er nimmt doch tatsächlich sogar Anlauf und... er macht einen Salto, bevor er mit dem Allerwertesten zuerst auf die Oberfläche auftrifft! Das Wasser peitscht in alle Richtungen davon, die Tropfen treffen mein Gesicht, es brennt ein wenig, weil es jetzt im Mai noch nicht wirklich warm genug für ein Outdoorschwimmen in einem Gebirgsbach ist. Da taucht er wieder auf und ist mit wenigen Schwimmzügen bei mir! Er grinst über das ganze Gesicht. Ich glaube, das mit dem Mut hat er jetzt bewiesen. Aber ich... oh nein, wenn ich nur daran denke, dass ich noch drei Stunden in diesem Wasserlauf verbringen, mich noch einmal abseilen und dann vielleicht noch einmal springen muss! Mir wird ganz flau im Magen. Das ist nicht wirkliche ein Sport für mich!
„Oh, Gabi! Ich liebe dich! So ein tolles Abenteuer, das erinnert mich an früher, als ich mit meinen Brüdern an einem Schwungseil in unseren Baggersee gesprungen bin! Ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich dich geschubst habe? Ich wollte unbedingt hinunter!“
Er? Er hat mit geschubst? Was ist denn auf einmal in den gefahren? Mein guter Wolle, der sein Leben dem Errechnen von Risikostatistiken bei Sportunfällen gewidmet hat?
„Wolle, ich will zurück ins Hotel!“
„Ach ehrlich Gabi? Sonst beißt du doch auch immer die Zähne zusammen und gehst mit Vollgas durch jede Wand! Du hast es mir und auch dir selbst zu Weihnachten geschenkt.“
Wolle klingt sehr enttäuscht. Er würde mich nicht allein gehen lassen. Es scheint mir, er ist der letzte lebende Kavalier auf der ganzen Welt. Aber er hat Recht! Ich bin sonst diejenige, die voran geht. So wie eben bei dem ersten Sprung der Tour. Aber ich muss ja nicht unbedingt immer die Erste sein. Hinter uns sind nun auch die anderen Teilnehmer ins Wasser gesprungen. Felix scheucht uns voran, er will noch vor dem Sonnenuntergang zu Hause sein, sagt er. Felix, ganz ehrlich, das will ich auch. Aber jetzt gehe ich ans Ende der Teilnehmerschlange. Ich beiße die Zähne zusammen, ächze, keuche, friere. Ich glaube, mein ganzer Körper ist ein einziger blauer Fleck. Aber ich bin unten. Mein Wolle, der die ganzen drei Stunden die Tour angeführt hat, der den anderen Mut gemacht hat, den Sprung in die Gumpe, den Strudeltopf der Wasserfälle zu wagen, steht als echter Held am Auto von Felix und rollt die letzten Kletterseile zusammen. Jeder klopft ihm auf die Schulter, alle laden ihn zu einem Jagertee ein. Den haben wir uns jetzt auch verdient, mit dem Einbruch der Dunkelheit wird es lausig kalt.
Ich weiß gar nicht, was ich fühle, als ich jetzt im warmen Kaminzimmer der Klammbachwirtin sitze und meinen Wolle anschaue. Er ist der Mittelpunkt der geselligen Runde, versprüht einen Charme, den ich noch nie bei ihm entdeckt habe. Wer ist dieser rundherum glückliche Mann? Noch der Wolle, der gestern langweilige Zahlenkolonnen addiert hat? Bestimmt nicht, denn es kribbelt in meinem Bauch als ob zehntausend Schmetterlinge darin tanzten. So habe ich noch nie für Wolle empfunden.
Die Anderen sind total müde ins Bett gegangen. Mein Wolle trinkt noch sein Glas leer. Er strahlt mich an, als wäre ich sein Gral. So hat er mich noch nie angesehen.
„Danke, Gabi. Ich bin zu weit weg vom Sport, an meinem Computer. Aber das ist es, was ich immer machen wollte! Auch wenn es nur mal gelegentlich ist. Ich möchte dich in mein Bett einladen, wenn du es nach den Anstrengungen des heutigen Tages noch möchtest?“
Mir bleibt die Luft weg. Er hat noch nie die Initiative ergriffen! Ob ich will? So sehr wie noch nie in unserer Beziehung. Ja, Wolle hat Mut gefunden. Und ich? Vielleicht mehr Demut. Es gibt da tatsächlich etwas, das kann ich nicht und das ist Canyoning.

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